Schreiben im frühen Mittelalter

04.09.2019 Carolin Steimer

Boethii Peri hermeneias; 10. Jh.; Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 301(469) - der Text weist viele Zeichungen und Ranbemerkungen (Marginalien) auf.

Im Zeichen der Bildungsreform Karls des Großen - Teil 2

„O wie schwer ist doch die Schreibkunst: sie ermüdet die Augen, bricht die Seele und schwächt alle Glieder. Drei Finger schreiben, aber der ganze Körper leidet“. Das ist, um es lieber noch einmal zu erwähnen, kein Zitat aus meiner Grundschulzeit! Hier handelt es sich um ein Zitat, welches sich ab dem 8. Jahrhundert in vielen Variationen am Rande oder auch der Rückseite von mittelalterlichen Texten finden lässt. Urheber dieser Randnotizen ist der „Schreiber“ des eigentlichen Textes. Ich verwende hier zu Beginn den Begriff des „Schreibers“, da es sich bei demjenigen, der dort schreibt, nicht zwangsweise auch um den Autor handelt. Der „Schreiber“ des frühen Mittelalters sollte nämlich nicht mit einem modernen Autor, wie wir ihn heute kennen, verwechselt werden. Der „Schreiber“, um den es hier hauptsächlich gehen soll, war schlicht… ja…ein „Schreiber“ oder – wie wir sehen werden – „Kopierer“, der sich lediglich mit solchen Versen am Rande des Werkes der Nachwelt zeigte. War Schreiben wirklich mit solchen Anstrengungen verbunden, dass sich ein „Schreiber“ derart beklagen musste? Wer war der „Schreiber“? Warum war der „Schreiber“ nicht auch zugleich Autor oder was wurde überhaupt geschrieben? Gehen wir der Sache nach. Von Anfang an...na gut…nicht ganz von Anfang an, aber zurück ins 8. Jahrhundert.  

Geschrieben wurde zu der Zeit Karls des Großen in einem Skriptorium (Schreibstube). Das Skriptorium war ein Raum in den karolingischen Klöstern, in denen Mönche – jetzt haben wir den Schreiber schon mal identifizieren können – einer rein mechanischen Schreibtätigkeit nachgingen. Rein mechanisch bedeutet, dass sie ohne ein Sinnverständnis eine reine Kopiertätigkeit erfüllten. Ohne Sinnverständnis soll hier aber nicht heißen, dass der Mönch nicht wusste, was er da schrieb, sondern, da er Lage für Lage kopierte (siehe Blog zur „Herstellung eines Buches im Mittelalter“), wenig mit dem Inhalt zu tun hatte. Seine Aufgabe war es, den Text abzuschreiben, nicht neu zu schreiben. Die Mehrheit der Mönche in den Skriptorien waren also keine Autoren, sondern sie sollten in aller Regel die Werke anderer vervielfältigen. War der Mönch allerdings davon überzeugt, einen Fehler im Text gefunden zu haben, veränderte er ihn kurzerhand in seinem Sinne. Auf Bänken sitzend, das Pergament vor sich auf dem Pult oder sogar nur auf den Knien, schrieben sie Stunde um Stunde mit einer angespitzten Gänsefeder Texte ab. Eine durchaus schmerzhafte Angelegenheit. Schreiben wurde so zu einem Großteil als eine körperliche Tätigkeit definiert. Die abschreibenden Mönche verstanden es primär als eine Art asketische Übung, die der Heilssicherung dienen sollte. Bei den abzuschreibenden Texten handelte es sich vor allem um christliche, biblische Texte. Im biblischen Kontext ist die Frage nach dem Autor etwas schwieriger. Aber es gab natürlich auch andere Autoren wie z.B. die Geschichtsschreiber und Kirchenväter wie etwa Augustinus, Gregor den Großen, Beda, Gregor von Tours etc., deren Werke abgeschrieben wurden mit dem Anliegen, das vorhandene Wissen zu sichern statt neues zu schaffen. Einen Literaturbetrieb, wie man ihn sich heute vorstellt mit Autor, Auftraggeber, Mäzen etc., sollte sich erst später ausbilden. Aber auch wenn es noch keinen ausgeprägten Literaturbetrieb gegeben hat, stieg die Produktion der Texte explosionsartig an. Während aus dem 7. Jahrhundert nur etwa 1800 Bücher erhalten sind, sind es schon gut 7000 aus dem 8. Jahrhundert.

Eine Ursache für den Anstieg der Produktion christlicher Texte liegt in der karolingischen Bildungsreform. In aller Kürze lassen sich die Ziele der Bildungsreform wie folgt zusammenfassen: Korrektur der Texte, Verbesserung der klerikalen Bildung und Verbreitung der Schrift sowie ihres Gebrauchs. Anders ausgedrückt geht es primär um ein Art Missionierungsbestreben, in dessen Zuge eben die Bildung des Klerus im Vordergrund stand. Immer mehr entstanden Schreibstuben, in denen Texte produziert bzw. kopiert wurden. Die vorherrschende Schriftsprache ist aber noch immer das Lateinische. Wenn man bedenkt, dass auch die Messen auf Latein gehalten wurden, ist es nicht verwunderlich, dass hier noch nicht an eine Laienbildung gedacht wurde. Vielmehr ging es um einheitliche klerikale Struktur. Schreiben und Bildung blieb mehrheitlich dem Klerus vorbehalten. Erst im 13. Jahrhundert bildeten sich aufgrund von ökonomischen Reformen vereinzelte Laienschulen heraus.

Literarische Erzeugnisse in deutscher Sprache sind nur marginal vorhanden und wurden zumeist für ganz bestimmte Zwecke verwendet. So dienten sie der religiösen Unterweisung als Hilfe beim Studium der lateinischen Texte oder fanden Verwendung als kirchliche Gebrauchstext, wie z.B. Anleitungen über kirchliche Verfahren und Sanktionen gegenüber Normverstößen wie Totschlag, Ehebruch etc.

 

Evangelienharmonie des Tatian - erste Hälfte des 9. Jahrhunderts

Aus dem 9. Jahrhundert sind insgesamt nur drei buchfüllende deutscheTexte erhalten.

  1. Tatian (ca. 830) eine Evangelienharmonie des Tatianus (originaler lateinischer Text + althochdeutsche Übersetzung)
  2. Heliand (ca. 830) Evangelienharmonie; altsächsischer Text
  3. Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch (ca. 860); althochdeutscher Text bestehend aus fünf Büchern

Viele andere bekannte deutschsprachige Texte wurden lediglich an den Rand oder sogar auf der Rückseite anderer Texte geschrieben. Das bekannteste Beispiel ist wohl das Hildebrandslied, das auf der Vorderseite des ersten Blattes und der Rückseite des letzten Blattes eines codex von ca. 830 zu finden ist. Der codex selbst enthält lateinische Texte. Aufgrund des Platzmangels ist das Hildebrandslied nur unvollständig niedergeschrieben.


Das Deutsche wie wir es heute kennen, hatte sich noch gar nicht entwickelt, sondern es handelte sich beim Deutschen um viele verschiedene Sprachformen (z.B. Altsächsisch oder Althochdeutsch).   Doch warum hat das Deutsche so lange gebraucht, sich als Schriftsprache durchzusetzen? Bei der Schriftsprache des Mittelalters geht es in letzter Konsequenz erst einmal um eine möglichst getreue Wiedergabe des Lautbildes. Man schreibt wie man spricht. So findet man in den mittelhochdeutschen Handschriften für ein und das selbe Wort verschiedene Schreibweisen: z.B. vrouwe, frouwe, frowe, vrowe – Frau. Die Abhängigkeit zu den verschiedenen Sprachformen macht es nicht weniger kompliziert. Eine verbindliche Schreibnorm, wie etwa den Duden, lässt sich erst ab dem 17./18. Jahrhundert finden. Ein letzter nicht unerheblicher Grund, warum die Entwicklung einer deutschen Schriftsprache so lange dauerte, ist der Übertragungsprozess der lateinischen Alphabetschrift für die deutsche Sprache. Das lateinische Zeichensystem passte nur unzureichend auf das Lautsystem des Deutschen. Otfrid von Weißenburg beschrieb das Deutsche als eine unkultivierte (linguae barbaris) und ungehobelte, bäurische Sprache (lingua agrestis), die schwierig in Schrift umzusetzen sei, womit er wohl auch heute noch unter anderen Voraussetzungen natürlich recht behalten würde.  

 

Fabian Frerichs