Nachdem der „Tag des offenen Denkmals“ nun vorüber ist und einige von euch vielleicht selbst in unserem Skriptorium am eigenen Leib erfahren haben, wie mühevoll das Schreiben im Mittelalter gewesen sein muss, möchte ich mich im letzten Teil der Reihe mit einem besonderen Exemplar der karolingischen Buch- und Schreibkunst beschäftigen: dem Codex Aureus Laureshamensis aus dem 9. Jahrhundert – auch bekannt als das Lorscher Evangeliar, welches als Faksimile Teil unserer Dauerausstellung ist.
Im Rahmen der Sonderausstellung „799 – Kunst in der Karolingerzeit“ im Jahr 1999 fand es sogar schon einmal im Original den Weg zu uns nach Paderborn. Dieser Weg wird wohl einer seiner kürzeren und unbeschwerlicheren gewesen sein, denn seine Geschichte ist äußerst abenteuerlich und von manchen Trennungen gekennzeichnet. Der Codex ist heute nämlich nicht mehr als vollständiges Werk zu bewundern, sondern ist im Laufe seiner Geschichte geteilt worden. Der Textkörper wurde zweigeteilt und der Codex seiner berühmten elfenbeinernen Buchdeckel beraubt. Umso erstaunlicher ist es, dass das Evangeliar als eines der am besten erhaltenen Exemplare seiner Zeit und als das letzte erhaltene Werk der Hofschule Karls des Großen gilt.
In seiner Vollständigkeit bestand der Codex aus:
- den vier Evangelien mit Prologen
- zwei Briefen des Hieronymus (Commentarius in Mattheum, Praefatio (Auszug) + Praefatio in evangelio)
- zwölf Kanontafeln (Canones evangeliorum)
- Kapitular (Capitulare evangeliorum)
Zu bewundern sind die Teile heute im Batthyaneum, Karlsburg, Rumänien (erster Teil: Evangelien nach Matthäus und Markus, Briefen und Kanontafeln), dem Victoria & Albert Museum, London (Madonnentafel – Vorderseite) sowie in der Vatikanischen Bibliothek, Rom (zweiter Teil; Evangelien nach Lukas und Johannes, Kapitular) und im Vatikanischen Museum, Rom (Christustafel – Rückseite).
Allein die verschiedenen Aufenthaltsorte der Teile versprechen eine interessante Geschichte, aber wo nahm sie ihren Anfang? Schaut man in den Lorscher Bibliothekskatalog C von 860, so findet man den Eintrag: „Eungelium pictum, cum auro scriptum, habens tabulas eburneas“ (illustriertes Evangeliar in Gold geschrieben mit Elfenbeineinband). Ein erster Hinweis auf die Existenz einer ganz besonderen Prachthandschrift, entstanden an der Hofschule Karls des Großen – das Lorscher Evangeliar. Zu Beginn seiner Geschichte hat ein recht ruhiges Dasein gefristet. Als Punkhandschrift, nur für besondere Gelegenheiten hervorgeholt und benutzt, war es vor Beschädigungen sicher und seine Teilung noch in weiter Ferne.
Ein Beleg dafür, dass es sich im Jahre 1479 noch komplett in Lorsch befand, lässt sich auf der Rückseite seines letzten Blattes finden. Dort ist vermerkt, dass das Buch in diesem Jahr auf Anordnung des Lorscher Prämonstrantenserpropstes Eberhard von Wasen restauriert und neu gebunden wurde. Als das Kloster Lorsch 1565 aufgelöst wurde und das Evangeliar in der berühmten Heidelberger Bibliotheca Palatina eine neue Heimat fand, war es also sehr wahrscheinlich noch komplett.
Lange währte der neue Friede allerdings nicht. Als Heidelberg 1622 durch Graf Tilly erobert wurde, forderte Papst Gregor XV. vom unterlegenden Maximilian von Bayern die Bibliotheca Palatina als Kriegsbeute. Leone Allacci, Theologe und Bibliothekar, wurde mit der Aufgabe betraut, logistisch äußerst aufwendige Unternehmen, die gesamte Bibliotheca Palatina nach Rom zu überführen, zu So verließ auch das Lorscher Evangeliar Heidelberg in Richtung Rom. Ab hier wird die Geschichte des Evangeliars nun richtig spannend, denn im Besitz des Vatikans befindet sich ja nur der zweite Teil des Codex‘. Hatte Allacci etwa den ersten Teil veruntreut? Manche Forscher behaupten, das habe er. Andere weisen hingegen auf Varianten zugunsten Allaccis hin. So könnte er den ersten Teil als Geschenk oder Lohn erhalten haben. Ob eine der beiden Theorien überhaupt zutreffend ist, kann nicht gesagt werden. Aus den Unterlagen des Vatikans geht nur hervor, dass zwölf Kisten der Kostbaren Fracht verschwanden. Die Geschichte des ersten Teils bleibt rätselhaft, bis er 1785 von dem Ungarn Ignác Batthyány, einemrömisch-katholischen Bischof, erworben wurde. So wurde es Teil seiner später Batthyaneum genannten Bibliothek, die 1961 eine Außenstelle der Rumänischen Nationalbibliothek avancierte. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits von seiner elfenbeinernen Madonnentafel getrennt und in Leder neu eingebunden worden. Der dazugehörige Buchdeckel tauchte erst 1835 wieder auf, als sie im Zusammenhang mit einer Kunstsammlung eines russischen Adeligen auf den Kunstmarkt gelangte. Bis heute gehört sie nun zur Sammlung des Londoner Victoria & Albert Museums.
Über den tatsächlichen Zeitpunkt seiner Teilung kann man nur spekulieren. Die wahrscheinlichsten Theorien stützen sich auf die Metallrahmen, welche die Elfenbeintafeln des Evangeliars umfassen. Da diese Metallrahmen ins 16. Jahrhundert zu datieren sind, erscheint eine Teilung vor der Heidelberger Zeit unwahrscheinlich. Möglicherweise wurde der Codex aber auch erst 1623 nach seiner Überführung nach Rom geteilt. Es sollte dann noch über 300 Jahre dauern, bis 1999 erstmals nach seiner Trennung alle Teile des Evangeliars wieder an einem Ort versammelt und zu bewundern waren – bei uns im LWL-Museum in der Kaiserpfalz.
Wer einmal digital durch das Lorscher Evangeliar blättern möchte, kann das hier tun.
Fabian Frerichs